Bild: © Heini Glauser
Wasserkraftnutzung und Energiewende
«Schon bald könnte der Strom knapp werden …». Dieser Satz ist ein altbekannter Schlachtruf der Stromwirtschaft, wenn es um den Bau von neuen Grosskraftwerken geht. Nicht erst seit dem Trift-Projekt und dem damaligen AKW-Projekt Kaiseraugst, sondern auch schon in der Zeit von bekämpften und verhinderten Wasserkraftwerken im Rheinwald (Splügen) und im Urserental (Andermatt) vor 70 Jahren. Auch im Bernischen gab es in den 1960er Jahren mit dem Oberlandprojekt ein vergleichbares Vorhaben. Allesamt scheiterten sie am Widerstand der lokalen Bevölkerung.
Von Heini Glauser
Abb. 1: Heini Glauser ist Architekt, Energieingenieur und Mitglied im Triftkomitee und im Grimselverein. Ehemals: Vizepräsident der Schweizerischen Energie-Stiftung und Präsident des Stiftungsrates Greenpeace Schweiz
Wer mit Stromknappheit droht, hätte Jahrzehnte lang Zeit gehabt, andere Konzepte und Alternativen zu Grosskraftwerken zu studieren. Solche Vorschläge unterbreitete neben vielen anderen Publikationen auch das Buch «Energie für oder gegen den Menschen?» 1984. Es wurde von Wissenschafter:innen, Umwelt- und Energiepolitiker:innen geschrieben, nachdem ihnen auf Druck der NOK (Vorgängerfirma der AXPO) die ETH-Leitung ein kontradiktorisches Energieseminar zu den Energie-, CO2- und AKW-Fragen verbot.
Es gibt die anderen Möglichkeiten, zusätzlichen Strom zu produzieren. Allen voran die Solarstromerzeugung mit Photovoltaik (PV), die von der Stromwirtschaft und vom Bundesamt für Energie (BFE) lange behindert wurde. Oder die dezentrale Stromerzeugung in Heizkellern und Industriebetrieben mit Wärmekraftkopplung (WKK). Wo geheizt wird, kann mit WKK gleichzeitig Strom produziert werden. Ein idealer Beitrag für die sogenannte «Winterstromlücke».
Abb. 2: Die Stromsituation in den Jahren 2013-2017 zeigt die Strukturprobleme des aktuellen Kraftwerkparks in der Schweiz. Der Stromverbrauch ist im Winterhalbjahr hoch und in den Sommermonaten tief (schwarze Kurve). Schweizer Strom wird gegenläufig dazu produziert und dies seit drei bis vier Jahrzehnten. Grafik: Heini Glauser, Datenquelle: Schweizerische Elektrizitätsstatistik 2018
Die Schweiz ist keine Insel
Die Schweiz hat sich seit Jahrzehnten für den Wasser- und Atomkraftpfad entschieden. Dass damit im Sommer viel mehr Strom produziert wird als im Winter, während der Stromverbrauch umgekehrt verläuft (Winterverbrauchsspitze durch elektrisches Heizen) wurde ignoriert. Dieses Winter-Stromproduktionsdefizit und die sommerliche Stromüberschussverwertung wurden bisher mit dem grenzüberschreitenden Stromhandel gelöst. Im Jahr 2008 resultierte daraus ein Gewinn von 2,15 Milliarden Franken obwohl die Exporte und Importe mit je circa 50 TWh fast identisch waren. Seither sind die Gewinne aus dem Stromhandel fast weggeschmolzen wie der Schnee im Frühling, beides ausgelöst durch die Sonne, respektive den Sonnenstrom. Solarstrom hat den grossen Vorteil, dass seine Leistungsspitze über Mittag besser mit den menschlichen Aktivitäten zusammenpasst als Bandenergie während 24 Stunden am Tag.
Mit dem flexibel produzierbaren Strom aus Speicherkraftwerken können kurze Stromspitzen ideal abgedeckt werden. Die Speicherseen reichen jedoch bei weitem nicht, das Strommengen-Ungleichgewicht zwischen Sommer- und Winterhalbjahr auszugleichen. Notwendig waren im Durchschnitt der letzten zehn Jahre 4 TWh (TWh = Milliarden kWh) Importsaldo beim Stromhandel. Im Winterhalbjahr 2016/17 kumulierte sich der Importsaldo auf 9,8 TWh. Im Gegensatz dazu ergab sich im Winterhalbjahr 2019/20 ein kleiner Exportsaldo von 0,5 TWh. Dies hatte drei Hauptgründe:
- Im letzten Winter verbrauchten wir 1,4 TWh weniger Strom als im Winter 2016/17.
- Wegen teilweisem Ausfall der beiden AKW Beznau 1 und Leibstadt fehlten 4,9 TWh.
- Bei der Wasserkraft lagen die beiden Winterhalbjahre 3,6 TWh auseinander.
Die «Stromknappheitspanik» wurde durch die Beendigung der Rahmenabkommen- Verhandlungen mit der EU durch den Bundesrat ausgelöst. Die wachsenden Importüberschüsse im Winter und die Überschussexporte im Sommer wollte der Bundesrat schon seit langem mit einem klar regelnden Stromabkommen institutionalisieren. Mit dem Stopp-Entscheid statt dem Reset- Knopf beim Rahmenabkommen bewegt sich die Schweiz nun in eine unsichere Stromaussenhandelssituation.
Abb. 3: Der geleerte Grimselstausee zeigt das Ausmass der Zerstörung. Satt einer dynamischen und artenreichen Schwemmebene finden wir eine tote Fels- und Schlammlandschaft. Bildrechte: Katharina von Steiger
Wasserkraft ist nicht die Lösung
Mit dem projektierten Triftstausee könnten 0,2 TWh Strom vom Sommer in den Winter verlagert werden. Gleiches wäre auch mit der Grimselstaumauererhöhung möglich. Für beide Projekte verlangen nun die Projektant:innen der Kraftwerke Oberhasli (KWO) und die meisten Berner Grossrät:innen den Status des «Nationalen Interesses». Damit soll der Moorschutz beim Grimselsee ausgehebelt und die Zerstörung einer einmaligen Wildnis und Naturlandschaft in der Trift gerechtfertigt werden. Wenn beide Projekte der KWO realisiert werden, könnten maximal zehn Prozent der bisherigen Winterstromimporte reduziert werden. In Winterhalbjahren wie 2016/17 wären es vier Prozent gewesen. Wir würden also 20 bis 30 Triftkraftwerke benötigen, um die Winterstromlücke wirklich schliessen zu können. Wenn der Stromhandel mit unseren Nachbarländern nicht mehr möglich ist oder stark beschränkt würde, nützen neue Wasserkraftwerke im Verhältnis zur damit einhergehenden Naturzerstörung viel zu wenig.
Auch wegen des Atomausstiegs, der Verkehrswende und des wachsenden Strombedarfs für die Wärmeerzeugung kann die Winterstromversorgung nie durch neue Wasserkraftwerke gesichert werden. Durch den Atomausstieg, spätestens in 10 bis 15 Jahren, fallen zusätzlich 12,8 TWh Winterstrom weg (dies entspricht 64 mal dem Triftprojekt). Für den Umstieg von der bisherigen Mobilität auf Basis von Benzin oder Diesel auf Strom kommen weitere 6 TWh Winterstrombedarf dazu. Und für den Ersatz aller Öl- und Erdgasheizungen durch Elektrowärmepumpen brauchen wir zusätzlich 12-15 TWh Strom. Für die zusätzlich benötigten Mengen inländischem Strom, brauchen wir Energietechnologien, die das Potenzial zur Ergänzung der bestehenden Wasserkraft haben.
Zusätzliche Wasserkraftwerke haben dieses Potenzial, auch bei Ausserkraftsetzung von Natur-, Umwelt und Landschaftsschutzkriterien, bei weitem nicht. Zusätzliche Wasserkraftwerke akzentuieren den Sommer-Winter-Unterschied. Seit der Jahrtausendwende wurden 144 neue Wasserkraftwerke in Betrieb genommen. Die 128 Kleinkraftwerke mit Leistungen von unter 5 MW haben zusammen eine mittlere Produktionserwartung von 0,6 TWh: 0,2 TWh im Winterhalbjahr und 0,4 TWh im Sommerhalbjahr. Das Sommer-Winterverhältnis liegt ähnlich wie beim heutigen Durchschnitt von PV-Anlagen. PV-Anlagen auf Hausdächern sind jedoch pro kWh wesentlich billiger als neue Wasserkraftwerke. Die 16 grösseren neuen Wasserkraftwerke seit 1999 haben eine Produktionserwartung von 1,3 TWh: 0,7 TWh im Winter und 0,6 TWh im Sommer. Diese 144 neuen Wasserkraftwerke beziehen einen grossen Teil der Kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV).
Gute Verhandlungsbasis
Was kurzfristig für eine sichere Winterstromversorgung wichtig ist, sind konstruktive und offene Verhandlungen mit der EU und unseren direkten Nachbarländern. Mit den bestehenden Wasserkraftwerken, insbesondere den Speicherkraftwerken und Pumpspeicherwerken hat die Schweiz ein interessantes Angebot für die Verhandlungen. Ein weiteres Angebot an Deutschland für Strom-Ausgleichsgarantien könnte der zügige Atomaustieg sein. Der Kernreaktor des AKW Leibstadt liegt nur 250 Meter neben der Grenze zu Deutschland. Beznau 1 und 2 liegen sechs Kilometer von Deutschland entfernt. Die zwei neuen Gross-Pumpspeicherkraftwerke Linthal 2015 und Nant de Drance mit zusammen 1900 MW Pump- und Turbinierleistung und Baukosten von 4,4 Milliarden Franken können nur halbwegs wirtschaftlich betrieben werden, wenn sie für unsere Nachbarländer kurzfristigen Ausgleichsstrom liefern können. Als Saisonspeicher sind sie wegen ihren kleinen Oberstaubecken nicht geeignet. Der Muttsee ist nach 35 Stunden Betrieb leer, der obere Speichersee bei Nant de Drance sogar nach 22 Stunden. Der Betrieb dieser beiden Grossanlagen wurde auf die früheren Preise für Strom während den Verbrauchspitzen über Mittag konzipiert. Der Solarstrom liefert zunehmende Strommengen genau zu dieser Zeit am Mittag.
Zwischen-Fazit
- Der zusätzliche Winterstrombedarf bei Einhaltung der Klimaziele, bisherigem Gesamtenergieverbrauch und weitgehender Energieversorgung mittels Strom liegt bei 35 TWh. Dies entspricht dem vier- bis fünffachen Speicherpotential der heutigen Speicherseen.
- Bei der Diskussion der Gewässerschutzinitiative und dem umgesetzten Gegenvorschlag des Gewässerschutzgesetzes von 1990 war allgemeiner Konsens, dass die Schweizer Gewässer zu 90 Prozent für die Stromproduktion genutzt sind. Interessant ist im Gewässerschutzgesetz von 1990, dass die Option neue Gross-Wasserkraftwerke und die daraus resultierenden Schutzmassnahmen nicht speziell thematisiert sind.
- Wenn der Solare Masterplan von Nationalrat Roger Nordmann mit 45 GWp PV zugrunde gelegt wird, können wir bei optimaler Winterausrichtung der Solarzellen circa 15 TWh Solarstrom im Winterhalbjahr und 30 TWh im Sommer produzieren. Es bleibt ein zusätzlicher Winterstrombedarf von 20 TWh.
- Dazu braucht es eine Entwicklungsoffensive für genügend gasbetriebene WKK-Anlagen, die primär Winterstrom produzieren. Bei dezentralen WKK-Anlagen, deren Grösse auf den benötigten Wärmeabsatz konzipiert ist, kann ein Teil neuer Wärmepumpen eingespart werden. Bei aktuell circa einer Million fossilen Heizanlagen und einem Erneuerungszyklus von 20 Jahren, resultiert ein Ersatzpotential von 50 000 Heizungen. Wenn im bestehenden Gebäudebestand vor allem WKK-Anlagen installiert werden, könnten 300-500 MW Generatorleistung pro Jahr zugebaut werden. Damit kann jedes Jahr zusätzlich 1 TWh Winterstrom produziert werden, nach zehn Jahren 10 TWh/Jahr.
- Mit dem Überschussstrom im Sommer aus PV und aus den bestehenden Wasserkraftwerken kann Wasserstoff und synthetisches erneuerbares Methan produziert werden. Je schneller solche Power to Gas Anlagen (PtG) gebaut werden, desto schneller können wir den Weg Richtung «Netto Null CO2» beschreiten und erreichen.
Die Idee, neue Speicherseen in Gletschervorfeldern zu erstellen, wie im Falle des Projektes Trift, trägt keine substanzielle Menge Winterstrom bei (< 2-3 TWh). Ein nationales Interesse für solche Projekte ist nicht plausibel, weil es taugliche Alternativen gibt. PV, WKK und PtG werden bei Masseneinsatz kostengünstiger. Diese Technologien haben keine Potentialgrenze und eignen sich auch für den Export.
Von der Raumplanung lernen
Promotor:innen von Wasserkraft, Hochspannungsleitungen, Windrädern und grossflächigen Solaranlagen neigen dazu, ihre jeweiligen Projekte als «im nationalen Interesse für die Versorgungssicherheit » zu forcieren. Doch das gesamte Energiepotenzial ist gross: Allein die schweizerischen Alpen und Voralpen mit einer Fläche von circa 24 000 Quadratkilometern werden pro Jahr mit 27 000 TWh Sonnenstrahlung beschienen, einem Sechstel des aktuell weltweiten Bedarfs an Primärenergie. Keine Anlage für erneuerbare Energie, weder aus Sonne, Wind, Wasser oder Biomasse, kann also als «zwingend notwendig im nationalen Interesse gelten».
Die Energieproduktion muss auf geeignete Flächen eingegrenzt werden. Wie diese zu bestimmen sind – demokratisch und Interessen abwägend –, kann die Energiewirtschaft von der Raumplanung lernen. Raumplanung braucht es, um dem für das Siedeln und Bauen untauglichen freien Markt einen politischen Willen entgegenzusetzen. Analog werden wir auch die koordinierte Energieproduktion planen müssen. Und so wie sich in der Raumplanung ein Konsens fand, dass künftig die Verdichtung die Zersiedelung stoppen soll, so muss es auch in der Energiepolitik geschehen: Kein Zubauen der freien Landschaft, keine neuen Stauseen, keine neuen Kleinkraftwerke in den letzten natürlich fliessenden Bächen, keine falschen Standorte für Windturbinen, keine grossflächigen Sonnenkraftwerke im Gebirge – dafür intelligente Vernetzung, Koordination und Verdichtung, wo schon etwas ist.