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Artikel aus aqua viva 2/2024
Wiederansiedlungsprojekte: Es funktioniert!
Wiederansiedlungsprojekte: Es funktioniert!
Wussten Sie, dass es in der Schweiz einheimische Schildkröten gibt? Gemeint sind keine exotischen Arten, die für ihre Besitzer:innen zu gross oder lästig und deshalb illegal ausgesetzten wurden. Es geht um die Europäische Sumpfschildkröte, die lange Zeit als ausgestorben galt. Nach Wiederansiedlungsprojekten in mehreren Kantonen können wir heute wieder einzelne Tiere und sogar erste Populationen beobachten. Es besteht sogar die Hoffnung, dass sich langfristig wieder stabile Bestände in der Schweiz etablieren.
Von Charlotte Ducotterd und Sylvain Ursenbacher
Die Schweizer Geschichte der Sumpfschildkröte
Nicht nur in der Schweiz hatte die Europäische Sumpfschildkröte lange Zeit einen schweren Stand. Bereits seit dem Neolithikum stand sie auf unserem Speiseplan – dies belegen Panzerfunde entsprechender Ausgrabungen. Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert war ihr Fleisch derart begehrt, dass sie zum Objekt eines florierenden Handels wurde. Allein dies hat ihre Bestände reduziert. Hinzu kam ein massiver Verlust an Lebensräumen. Zwischen 1850 und 2000 wurden in der Schweiz mehr als 90 Prozent der Feuchtgebiete beeinträchtigt, zerstört und ausgetrocknet. An ihrer Stelle entstanden Siedlungen, Landwirtschaftsflächen, Strassen und Eisenbahnlinien. Dies führte schliesslich zum Zusammenbruch der natürlichen Populationen in der gesamten Schweiz, so dass die Art lange Zeit als ausgestorben galt.
Heute gibt es in der Schweiz wieder zahlreiche Einzelbeobachtungen und einige wenige Populationen, die auf Wiederansiedlungen zurückzuführen sind. Erste Versuche fanden im Kanton Genf bereits in den 1950er Jahren statt, vor allem im Naturschutzgebiet Réserve du Moulinde-Vert. Dort lebt heute die wohl grösste Population der Schweiz mit fast 200 erwachsenen Tieren. Weitere Wiederansiedlungen fanden in den 1970er Jahren im Kanton Bern und Anfang 2000 im Aargau statt, jedoch ohne messbare Erfolge.
Ende des letzten Jahrhunderts gab es zudem eine intensive Diskussion darüber, ob die Europäische Sumpfschildkröte tatsächlich als einheimisch zu bezeichnen ist oder ob es sich bei den entdeckten Tieren um entlaufene oder freigelassene Individuen aus nicht einheimischen Genlinien handelt. Diese Diskussionen beendete das BAFU mit der Veröffentlichung der Roten Liste der Reptilien 2005 (Meyer & Monney, 2005): Mit nur einer überlebensfähigen Population, derjenigen bei Moulin-de-Vert, stufte es die Art als «vom Aussterben bedroht» ein. Seitdem gilt das Ziel, die Bestände der Europäischen Sumpfschildkröte in der Schweiz durch weitere Wiederansiedlungsprojekte zu stabilisieren und auszuweiten.
Das Leben der Sumpfschildkröte
Die Europäische Sumpfschildkröte verbringt den grössten Teil ihres Lebens im Wasser. Zur Eiablage benötigt sie allerdings auch sandige Wiesen oder Dünen in der Nähe von Gewässern. Im Frühjahr paaren sich die Weibchen mit einem oder auch mehreren Männchen. Zur Eiablage sucht sich das Weibchen eine ausreichend warme Stelle an Land. Diese Eiablageplätze liegen oft sehr nah, aber es kommt vor, dass die Weibchen mehrere Kilometer wandern, um den für sie optimalen Standort zu finden. Dort legen sie dann im späteren Frühjahr oder im Frühsommer etwa zehn Eier in ein birnenförmiges, etwa zehn Zentimeter tiefes Loch, das sie mit den Hinterbeinen graben. Nach der Eiablage scharren sie den Sand wieder über das Loch und treten ihn fest. So sind die Eier geschützt vor Fressfeinden wie Füchsen oder Dachsen, aber leider auch für uns Forscher:innen schwierig zu finden. Die Mortalität ist während dieser Phase dennoch hoch, da die Nesträuber auch ihren Geruchssinn nutzen, um die Eier zu finden. Bei warmen Temperaturen kann es im Laufe eines Jahres auch zu zwei Bruten kommen, die etwa einen Monat auseinander liegen.
Die Jungtiere schlüpfen dann im Herbst aus ihren Nestern, teilweise auch erst im Frühjahr, um den Winter noch frostfrei in ihren Nestern zu verbringen. Nach dem Schlüpfen suchen sie den direkten Weg ins Wasser oder verbringen noch einige Wochen auf den Wiesen in der Nähe des Nestes. Die vier bis fünf Gramm schweren Jungtiere wachsen relativ langsam und sind erst im Alter von sieben bis zehn Jahren ausgewachsen. Die Sterblichkeitsrate bei jungen Tieren ist hoch, da sie von Raubtieren wie grossen Fischen, Vögeln oder Ringelnattern gefressen werden. Hoch ist aber auch die Überlebensrate bei erwachsenen Tieren. Wie die meisten Schildkrötenarten können auch Europäische Sumpfschildkröten bis zu 100 Jahre alt werden. Die grössten Weibchen erreichen dann ein Gewicht von fast einem Kilogramm. Die Ernährung der Europäischen Sumpfschildkröte ist sehr vielfältig und variiert stark nach Jahreszeit. Allgemein fressen die Tiere ein wenig von allem, was sie finden, bevorzugt aber wirbellose oder tote Tiere sowie Pflanzen. Die Europäische Sumpfschildkröte kann lokal in grossen Dichten vorkommen: Im Naturschutzgebiet Moulin-de-Vert sind es schätzungsweise über 60 Tiere pro Hektar Teichfläche.
Die Europäische Sumpfschildkröte überwintert im Wasser. Hierzu verlangsamen die Tiere im Herbst ihren Metabolismus und legen sich auf den Schlammboden «ihres» Teiches. Dort reduzieren sie ihre Aktivität auf ein Minimum, atmen durch die Haut und tauchen höchstens einmal am Tag an die Oberfläche, um Luft zu schnappen. Diese Winterruhe ist für die Schildkröten notwendig und hilft ihnen, die kalte Jahreszeit mit möglichst geringem Energieaufwand zu überstehen.
Wiederansiedlung der Europäischen Sumpfschildkröte in der Schweiz: Einfach machbar?
In den frühen 2000er Jahren startete eine Gruppe von Enthusiasten ein weiteres Ansiedlungsprojekt. Darunter mehrere Züchter in der Deutschschweiz, die sich ab 2012 im Verein SwissEmys zusammenschlossen (http://emys.ch), aber vor allem der Verein Protection et récupération des Tortues (PRT) in Chavornay. Unter der Leitung von Jean-Marc Ducotterd ist es der Gruppe in Zusammenarbeit mit der Koordinationsstelle für Amphibien- und Reptilienschutz in der Schweiz (karch) gelungen, alle relevanten Akteure zur Evaluation günstiger Standorte zusammenzubringen. Die Europäische Sumpfschildkröte galt ihnen als Schirmart, von deren Wiederansiedlung zahlreiche weitere Arten profitieren sollten. Die Beliebtheit der Tiere in der Öffentlichkeit sahen sie zudem als Chance, um die nötige Unterstützung für ihre Anliegen zu gewinnen.
Damit solche Wiederansiedlungsprojekte erfolgreich sind, müssen zahlreiche Parameter berücksichtigt werden: Wie sieht die Biologie der Art aus? Wie ist die Dynamik der Populationen? Wie steht es um die Genetik der Individuen? Was sind die Gründe für das Aussterben der Art? Welche Standorte sind für die Art günstig und welche Landschaftselemente fehlen in diesen Lebensräumen, um die Wiederansiedlung der Europäischen Sumpfschildkröte zu sichern? Was sind Schlüsselelemente, damit sich die wiederangesiedelte Population halten und die Populationsgrösse ansteigen kann? All diese Fragen mussten vor Projektstart beantwortet werden und stellten die Projektverantwortlichen vor grosse Herausforderungen. Denn die Europäische Sumpfschildkröte bevorzugt eine Kombination aus qualitativ hochwertigen und ausreichend bewachsenen Gewässern sowie trockenen Wiesen oder/und nahe gelegenen Sandgebieten, die nicht leicht zu finden ist. Ausserdem zeigten Arbeiten zur Genetik, dass die damaligen Reliktpopulationen und isolierte Individuen aus mehreren Unterarten mit sehr unterschiedlichen Herkünften bestanden. Somit war es für das Wiederansiedlungsprojekt nicht möglich, auf jene Restbestände zurückzugreifen. Die Tiere mussten einer bestimmten genetischen Gruppe entsprechen und hierfür eigens gezüchtet werden.
Nach verschiedenen Arbeiten zur Evaluierung der günstigsten Standorte, der Bestätigung, dass es keine vollständig einheimischen Individuen gibt, und allen offiziellen Anfragen beim Bundesamt für Umwelt und den kantonalen Behörden startete 2010 das erste Wiederansiedlungsprojekt in Prés Bordon, in der Nähe von Jussy (GE). Auf diese erste Wiederansiedlung folgten zwischen 2017 und 2023 weitere in Les Teppes de Verbois, Rouelbeau und Les Plans du Rhône, ebenfalls im Kanton Genf. Auch im Kanton Neuenburg wurde 2013 eine erloschene Population der Europäischen Sumpfschildkröte wieder angesiedelt. Diese Projekte wären nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung verschiedener privater Schildkrötenhalter:innen und mehrerer Institutionen, die genetisch an die Schweizer Verhältnisse angepasste Europäische Sumpfschildkröten züchten.
Das Monitoring der Projekte zeigt, dass sich die wiederangesiedelten Tiere fortgepflanzt haben und erste Jungtiere in freier Natur geschlüpft sind – erstmals 2016 im Kanton Genf und kürzlich auch in Neuenburg. Die verschiedenen Wiederansiedlungsprojekte waren auch Gegenstand verschiedener Forschungsarbeiten. Diese zeigten, dass die ausgewilderten Tiere im Jahr ihrer Aussetzung nur wenig mobil sind, aber ab dem zweiten Jahr ihre Umgebung sehr viel stärker erkunden – sie können hierzu mehrere hundert Meter zurücklegen. Eine Nahrungsanalyse ergab, dass die Europäische Sumpfschildkröte alle Arten von Beutetieren, aber auch viele Pflanzen frisst, und dass sie kein Problem für die lokale Fauna darstellt. Durch ihre Ernährung ermöglichen die Tiere sogar die Verbreitung bestimmter Pflanzenarten, indem sie deren Pflanzensamen fressen und ausscheiden.
Der nächste grosse Erfolg wäre nun, dass sich die in freier Natur geschlüpften Jungtiere ebenfalls fortpflanzen, eine dritte Generation heranwächst und sich daraus eine gewisse Populationsdynamik entwickelt. Im Kanton Genf wird dies in einigen Jahren erwartet. Erst dann kann der Erfolg der Wiederansiedlungsprojekte beurteilt werden. Wir werden es also erst in einigen Jahren, fast 20 Jahre nach der ersten Wiederansiedlung wissen. Mit Schildkröten muss man Geduld haben.
Autor:innen
Charlotte Ducotterd
Dr, hat ihre Dissertation über die Europäische Sumpfschildkröte in der Schweiz, ihre Verbreitung und Ernährung geschrieben. Zurzeit arbeitet sie bei info fauna an der Thematik «Exotische Arten». Ausserdem ist sie im Lenkungsausschuss für die Europäische Sumpfschildkröte (COPIL_Cistude) und im Centre Emys in Chavornay aktiv.
Kontakt
Charlotte Ducotterd & Sylvain Ursenbacher
info fauna karch
Avenue Bellevaux 51, 2000 Neuchâtel
charlotte.ducotterd@infofauna.ch
sylvain.ursenbacher@infofauna.ch
Sylvain Ursenbacher
Dr, hat seine Dissertation über die Genetik europäischer Vipern geschrieben und arbeitet derzeit bei info fauna als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Parallel dazu führt er weiterhin Forschungsprojekte zu europäischen Reptilien durch.