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 Dieses Gebiet bei Kollbrunn mit dem sinnigen Flurnamen «Auen» kann nun nicht mehr bis so nahe an die Töss überbaut werden. © Aqua Viva, Andri Bryner

4. November 2025

Mehr Platz für grössere Flüsse

Das Bundesgericht hat am Beispiel der Töss oberhalb Winterthur ein wegweisendes Urteil zugunsten ausreichender Gewässerräume gefällt. Es betrifft entlang von Flüssen eingezontes Bauland, das noch nicht überbaut ist.

Von Andri Bryner

Das Wichtigste in Kürze
  • Für die Töss – und wohl auch für andere grössere Fliessgewässer – muss ein ausreichend breiter Raum ausgeschieden werden, der die Funktionen des Gewässers sicherstellt und Platz für Aufweitungen belässt.
  • Vor einer definitiven Ausscheidung des Gewässerraums können entlang von grösseren Gewässern auf unüberbauten Arealen keine Neubauten mehr bewilligt werden, da sonst Präjudizien geschaffen werden und nötige Flächen unwiderruflich verloren gehen.
  • Sind Übergangsfristen verstrichen, können Behörden Übergangsregelungen nicht ungeprüft weiter als alleinige Richtschnur für ihre Entscheide nutzen.
  • Ein privater Gestaltungsplan von 1994 kann nicht neuerem Bundesrecht vorangestellt werden. Er hat seinen Planungshorizont sowieso längst überschritten.

Die Gemeinde, der Regierungsrat, das Baurekursgericht, das Verwaltungsgericht – alle haben Ja gesagt zur Grossüberbauung «In den Auen» entlang der Töss bei Kollbrunn oberhalb Winterthur. Tatsächlich ist das Land seit langem eingezont und es existiert sogar ein privater Gestaltungsplan für das Areal. Doch dieser Plan stammt von 1994 und seither ist man klüger geworden, was das Bauen nahe am Wasser betrifft. 2011 ist das eidgenössische Gewässerschutzgesetz daher mit Bestimmungen ergänzt worden, welche für die Fliessgewässer ausreichend und von Bauten freien Raum sichern sollen, damit Hochwasser schadlos abfliessen und die Bäche und Flüsse ihre ökologischen Funktionen möglichst gut erfüllen können.

Davon wollten die erwähnten Vorinstanzen nichts wissen. Sie stützten ihre Baubewilligung für die vier Wohnblöcke samt diverser Nebengebäude, Tiefgarage, Zufahrten etc. allein auf eine Übergangsregelung, die diesen Raum sichern sollte, solange der definitive Gewässerraum noch nicht festgelegt wurde. Berechnet wurde daraus ein Band für die Töss von 57 Metern Breite.

Der WWF, in der Sache unterstützt von Aqua Viva, hat die Entscheide angefochten, als Stimme für die zwar gelegentlich tosende, aber sprachlose Töss… und indirekt auch als Anwalt für die breite Öffentlichkeit, welche wohl später für einen besseren Hochwasserschutz der Neubauten hätte mitbezahlen müssen. Nun hat das Bundesgericht mit Entscheid 1C_271/2024 vom 8. Oktober 2025 in letzter Instanz anders entschieden und sämtliche Bewilligungen aufgehoben. Kern des Entscheids: Die Übergangsregelung bietet für grössere Bäche und Flüsse (aktuelle Sohlenbreite über 12 Meter, bzw. natürliche Sohlenbreite über 15 m) zu wenig Schutz, weil sie – provisorisch – zu deutlich kleineren Gewässerräumen führt als die definitive Festlegung. Von «Schutzlücke» spricht das Gericht. Im Fall der Töss beträgt die minimale Gewässerraumbreite 90 statt der erwähnten 57 Meter. Und selbst diese 90 Meter sind eher knapp bemessen. So hält das Bundesgericht wörtlich fest: «Angesichts der ökologischen Defizite der Töss und des Aufwertungspotenzials im fraglichen Abschnitt erscheint es plausibel, dass der minimale Gewässerraum erhöht werden muss, damit die Töss längerfristig ihre ökologischen Funktionen erfüllen kann, namentlich um Raum für Ausweitungen des Gewässers zu schaffen.»

Eine Karte der Schweiz mit Felchen-Bildern um die Karte herum und Pfeilen auf die Seen, in denen sie leben.
Überbauung an der Töss: So darf nach dem neuen Bundesgerichtsurteil wohl künftig nicht mehr gebaut werden. Foto: © Aqua Viva, Andri Bryner

Ein Ausnutzen der für grössere Gewässer ungenügenden Übergangsregelung wäre fatal. So steht im Entscheid: «Könnten die Kantone noch Jahre nach Ablauf der Umsetzungsfrist Bauvorhaben bewilligen, die voraussichtlich (ganz oder teilweise) in den definitiven Gewässerraum zu liegen kommen, würde die Anwendung des Bundesgewässerschutzrechts vereitelt: Es würde dicht überbautes Gebiet am Ufer von Flüssen geschaffen, das nach Art. 36a GSchG freigehalten und extensiv bewirtschaftet werden sollte. Flächen, die für die natürlichen Gewässerfunktionen der Fliessgewässer und deren Renaturierung notwendig sind, gingen damit unwiderruflich verloren.»

Sicher ist der Flurname «Auen» kein Zufall. Dar Urteil macht nun klar, auch wenn das Gebiet zonenrechtlich Bauland ist, heisst das nicht, dass Bauten nahe am Fluss bewilligt werden dürfen. Auch das Thema des privaten Gestaltungsplans ist vom Tisch: Dieser, so das oberste Gericht, «…wurde im Jahr 1994 erlassen und hatte somit im Zeitpunkt der Erteilung der Baubewilligung 2021 seinen Planungshorizont längst überschritten. Seit 1994 hat sich auch die Rechtslage in Bezug auf den Schutz der Fliessgewässer und ihre Revitalisierung wesentlich geändert.» Das öffentliche Interesse an der bundesrechtskonformen Festlegung des Gewässerraums der Töss sei gewichtig. Dass ein (neues) Baugesuch nun warten muss bis zu dieser Festlegung erscheine «nicht unverhältnismässig» sagt das Bundesgericht.

Autor

René Binkert, Kanton Aargau
Andri Bryner
ist Hydrologe, Medienverantwortlicher der Eawag und im Vorstand von Aqua Viva aktiv. 
 
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